Eines unserer Ziele bei der Arbeit in Organisationen, die mit gestiegener Komplexität umgehen müssen, ist es, Dinge an die Oberfläche zu holen, die sonst im Verborgenen bleiben. Dies gilt sowohl in agilen Arbeitsumgebungen als auch in traditionellen Projektstrukturen.
Scrum
Im Scrum Umfeld geschieht das oft am Ende einer Iteration. Dort beschäftigt sich das Team nicht nur mit dem fachlich Geleisteten, sondern arbeitet in der Retrospektive auch an der Verbesserung der Arbeit und Leistungsfähigkeit des Teams. Der Scrum Master nimmt in dieser Situation eine besondere Rolle ein, denn er/sie versucht gleichzeitig eine Perspektive außerhalb des Systems einzunehmen. Gelingt dies, so besteht die Chance, anhand von konkret beobachtetem Verhalten Insuffizienzen aufzudecken und Maßnahmen zum Umgang mit diesen zu vereinbaren.
Klassische Projektwelt
In klassischen Projektstrukturen soll ähnliches durch regelmäßige Abstimmungstermine erreicht werden, in denen jedes Team-Mitglied die Möglichkeit hat, Feedback zu geben. Hierfür sind die Leassons-Learned, Steuerungskreise, Meilenstein-Reviews etc vorgesehen.
Strategische Arbeit
Ähnliches gilt in anderen Einsatzgebieten. So zum Beispiel, wenn für eine Abteilung oder eine ganze Organisation an strategischen Themen gearbeitet werden soll. Es ist von entscheidender Bedeutung sicherzustellen, dass man sich auf die wirklich wichtigen Themen fokussiert. Sich hier nur auf die allzu offensichtlichen Themen zu konzentrieren, gefährdet die Wirksamkeit der strategischen Arbeit und führt zu Verschwendung. Gerade in einer Welt, die von hoher Dynamik, also häufigen Veränderungen und Überaschunge geprägt ist, ist die Einbeziehung möglichst vieler Perspektiven enorm wichtig.
Produktentwicklung
Oder im Design Thinking, wo in kurzen Feedbackschleifen Perspektiven und Ideenfragmente gemeinsam zum neuen Erkenntnissen und letztlich Prototypen entwickelt werden sollen. Der Erfolg der Maßnahme hängt wesentlich davon ab, frühzeitig feststellen zu können, ob eine Idee vielversprechend ist oder nicht. Das Gestalten der jeweiligen Schritte im Design Thinking Prozess muss sicherstellen, nicht nur die offensichtlichen Aspekte einzubeziehen. Oft liegt das Gold in scheinbar unspektakulären Äußerungen von Probanden oder Teilnehmern.
Die Kultur beobachten
Hierfür braucht es jedoch eine Kultur im Unternehmen oder dem Team, die das Äußern von Beiträgen fördert.
Um blinde Flecken zu vermeiden, müssen die Eindrücke und Erkenntnisse aller Team-Mitglieder, unabhängig vom gewählten Vorgehen, einbezogen werden. Dies ist insbesondere in der klassischen Projektarbeit wichtig, wo oft ein strukturierter und sequenzieller Ansatz verfolgt wird.
In all diesen Fällen beobachten wir oft, dass Meldungen von Menschen mit hohem Sendungsbedürfnis die leisen Töne überdecken.
Es gibt nun einmal Menschen, denen es leichter als anderen fällt, ihre Meinungen und Ideen vorzutragen oder gut zu verkaufen.
Das kann dazu führen, dass eine Retrospektive weniger wertvoll, eine strategische Entscheidung weniger wirksam ist, ein Projektrisiko zu spät erkannt wird oder eine im Design Thinking erstellte Persona auf unvollständigen oder verzerrten Annahmen besteht.
Die Macht der non-verbalen Kommunikation
Wie können wir nun dieser Falle entgehen?
Eine sehr wirksame Methode habe ich Ideen von Tom Wujec entliehen. Im Wesentlichen geht es darum, an bestimmten Schritten im Prozess der Ideensammlung oder Brainstormings etc. zunächst auf verbale Sprache zu verzichten.
Beispiel Brainstorming
Wenn nun also während eines Brainstormings die gesammelten, auf Post-Its festgehaltenen Ideenfragmente vorgestellt werden, kann das Strukturieren in Themencluster/Gruppen zunächst ohne Sprache geschehen. Dazu stellt sich die ganze Gruppe vor die Wand / das Board und gruppiert – ohne sich verbal auszutauschen – zusammengehörende Post-Its zu Themenhaufen. Die Gruppenmitglieder entdecken so recht schnell Konflikte im Verständnis der einzelnen Zettel und müssen mit ihnen arbeiten. Diese Konflikte deuten auf unterschiedliche Sichten und laden uns zu einem wertvollen Austausch darüber ein, der zu ganz neuen Erkenntnissen führen kann. Erkenntnisse, die wir erst später oder nie erhalten hätten, wenn wir nur auf die deutlich wahrnehmbaren Stimmen hören.
Beispiel Retrospektive
Auch in einer Retrospektive, egal ob in einem agilen oder klassischen Projektumfeld, könnten Kollegen ihre Eindrücke des letzten Sprint statt wie üblich verbal, diese nun einmal non-verbal vortragen. Der Scrum Master bzw. der Projektleiter bereitet dazu eine Wand mit möglichst vielen Fotos von menschlichen Regungen vor: Neugier, Sorge, Freude, Angst, Unwohlsein, Stolz, Trauer, Glück etc. Die Team-Mitglieder werden nun gebeten, einen Klebezettel auf das jeweils aus ihrer Sicht passende Foto zu kleben. Hier kommt es häufig zu sehr überraschenden Meldungen, die aufgegriffen und besprochen werden können. Auch diese Erkenntnis wäre rein verbal möglicherweise nicht zur Sprache gekommen. Es gibt für Retrospektiven eine Vielzahl an weiteren Formaten, die geeignet sind, non-verbal Feedback einzuholen. Ihr Scrum Master des Vertrauens hilft Ihnen da gern weiter.
Beispiel Design Thinking
Im Rahmen des Design Thinking, unabhängig davon, ob es in einem agilen oder traditionellen Projektumfeld angewandt wird, sollen exemplarische Personas gebildet werden. Typischerweise nimmt man dazu alle möglichen Datenquellen zur Hand: Webanalyse-Daten, Interviews, persönliche Erfahrungen, Meldungen aus dem Kundensupport etc. Auch hier besteht die Gefahr der Überblendung durch prominente Wortmeldungen. Nicht jeder Mensch verspürt den Drang, Widerspruch oder konterkarierende Eindrücke zu äußern. Besonders dann, wenn Personen mit formaler Macht Teil des Teams sind. Eine Möglichkeit im Einsatz von sog. Lean personas (Lean personas by Adrian Howard): Dabei wird zu jeder initial bestimmten Persona eine Skala an der Wand angebracht. Ganz links steht für Informationen, die sich faktisch belegen lassen. Ganz rechts für rein auf der Phantasie basierenden Annahmen. Die Teilnehmer können nun ihre Eindrücke, Analyse-Informationen, Demografien etc. non-verbal auf dieser Skala verteilen. Auch hier wird wieder durch den anfänglichen Verzicht auf Sprache ermöglicht, dass die Teilnehmer nicht auf Rhetorik und Lautstärke zurückgreifen können. Vielmehr besteht die Chance besteht, Abweichungen als Einladung zum Austausch und damit zum Offenlegen von verborgenen, potenziell wertvollen Erkenntnissen zu nutzen.
Fazit
Die Einbindung aller Stimmen in der Projektarbeit, sowohl in agilen als auch in traditionellen Umfeldern, ist entscheidend für den Erfolg und die Innovation. Die Nutzung verschiedener Kommunikationsformen, einschließlich non-verbaler Methoden, ermöglicht es, ein umfassendes Verständnis und eine breite Beteiligung zu erreichen. Eine Kultur, die Vielfalt in Meinungen und Gedanken fördert, ist unerlässlich, um komplexe Herausforderungen effektiv zu bewältigen und kollektive Erfolge zu erzielen.